Die derzeitige sog. Corona-Pandemie hat Deutschland weiterhin fest in ihrem Griff. Nicht nur das öffentliche Leben wird auf absehbare Zeit erheblichen Einschränkungen unterworfen sein, auch die berufliche Tätigkeit der Strafverteidiger hat sich durch die gegenwärtige Situation stark verändert. Dies wirft eine ganze Reihe von Fragestellungen auf, die sich für die meisten Verteidiger bisher wohl eher selten gestellt haben. Einige dieser Fragen betreffen die Anwesenheitspflicht in der Hauptverhandlung und sollen nachfolgend erörtert werden.
- Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung
Nach dem Grundsatz des § 230 Abs. 1 StPO findet gegen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptverhandlung statt. Die Vorschrift dient dabei der Sicherstellung des fundamentalen Rechts eines jeden Angeklagten, sich selbst gegen die erhobenen Vorwürfe verteidigen zu können. Die Norm führt aber im Umkehrschluss auch zu der Pflicht des Angeklagten zur Hauptverhandlung zu erscheinen.
Bleibt der Angeklagte ohne genügend entschuldigt zu sein aus, hat das zuständige Gericht in der Regel die Vorführung anzuordnen oder einen Haftbefehl zu erlassen, § 230 Abs. 2 StPO. Bei der Frage, ob das Ausbleiben des Angeklagten genügend entschuldigt ist, kommt es nicht auf die Frage an, ob sich ein Angeklagter tatsächlich entschuldigt hat, sondern ob das Ausbleiben genügend Entschuldigt ist. Dies ist nach der Rechtsprechung der Fall, wenn dem Angeklagten bei Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls aus dem Ausbleiben billigerweise kein Vorwurf zu machen ist (vgl. BVerfG NJW 2007, 2318).
In Fällen einer Erkrankung, jedenfalls sofern diese nach Art und Auswirkung eine Teilnahme an der Verhandlung unzumutbar macht, geht die Rechtsprechung von einer genügenden Entschuldigung des Angeklagten aus (vgl. u.a. OLG München StraFO 2013, 208).
Doch liegt auch eine genügende Entschuldigung vor, wenn ein Angeklagter in der gegenwärtigen Lage nicht zu einer Hauptverhandlung erscheint, weil er die begründeten Gefahr einer Ansteckung mit dem Corona-Virus nicht auf sich nehmen möchte?
Belastbare gerichtliche Entscheidungen hierzu gibt es noch bisher nicht, so dass diese Frage noch nicht abschließend geklärt ist. Nach meiner Ansicht kann einem Angeklagten, insbesondere wenn er zu einer der benannten „Risikogruppen“ gehört jedoch aus seinem Ausbleiben kein Vorwurf gemacht werden, da er lediglich versucht seine Gesundheit und mithin auch sein Leben zu schützen. Diesem legitimen Ziel muss sich das Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung unterordnen.
Es darf bei Beantwortung dieser Frage auch nicht übersehen werden, dass sowohl die Bundes- als auch sämtliche Landesregierungen derzeit empfehlen, den eigenen Haushalt möglichst nicht zu verlassen. Wer zu den „Risikogruppen“ zählt, soll sich durch Familien- oder Nachbarschaftshilfe versorgen lassen und alle (sozialen) Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren.
- Ausbleiben des Verteidigers in der Hauptverhandlung
Bleibt in Fällen der sog. notwendigen Verteidigung der Verteidiger der Hauptverhandlung fern, hat der Vorsitzende dem Angeklagten sogleich einen anderen Verteidiger zu bestellen oder das Gericht hat die Aussetzung der Verhandlung zu beschließen, § 145 Abs. 1 StPO. Der Grund des Ausbleibens spielt dabei keine Rolle. Es kommt somit auch nicht darauf an, ob das Ausbleiben berechtigt oder nachvollziehbar ist (relevant ist dies jedoch bei der Frage, ob dem Verteidiger die durch eine Aussetzung verursachten Kosten auferlegt werden können, § 145 Abs. 4 StPO).
Das Gericht kann mithin nach erfolgter Pflichtverteidigerbestellung die Hauptverhandlung auch ohne den bisherigen Verteidiger fortsetzen.
Nach wohl herrschender, aber wenig überzeugender Meinung soll § 145 Abs. 1 StPO nicht anwendbar sein, wenn zumindest einer von mehreren Verteidigern des Angeklagten erschienen ist, mit der Folge, dass die Hauptverhandlung ohne Einschränkung stattfinden kann. Nach hiesiger Auffassung stellt dies eine kaum zu rechtfertigende Beschränkung der Beschuldigtenrechte dar. Bleibt ein Verteidiger der Hauptverhandlung berechtigt fern (etwa weil er zu den „Risikogruppen“ zählt), ist der Angeklagte bei uneingeschränktem Fortgang der Hauptverhandlung erheblich in seinen Verteidigungsmöglichkeiten eingeschränkt.
- Ausbleiben eines Zeugen in der Hauptverhandlung
Zeugen sind gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 StPO verpflichtet, zu ihrem gerichtlichen Vernehmungstermin zu erscheinen. Die Folgen des Ausbleibens werden von § 51 Abs. 1 StPO geregelt, der mitunter auch eine zwangsweise Vorführung des Zeugen ermöglicht.
Folgenlos bleibt jedoch das rechtzeitig genügend entschuldigte Ausbleiben eines Zeugen, § 51 Abs. 2 StPO. Eine genügende Entschuldigung liegt vor, wenn der Zeuge erkrankt ist und ein Erscheinen für ihn unzumutbar ist. Bislang ungeklärt ist die Frage (wie auch bei einem Angeklagten), ob eine genügende Entschuldigung vorliegt, wenn der Zeuge die begründete Gefahr einer Ansteckung mit dem Corona-Virus nicht auf sich nehmen will und deshalb nicht zu seiner gerichtlichen Vernehmung erscheint. Nach meiner Einschätzung kann einem Zeugen jedenfalls dann aus seinem Ausbleiben kein Vorwurf gemacht werden, wenn er zu einer der benannten „Risikogruppen“ gehört. Zwar sind die prozessualen Rechte eines Zeugen „schwächer“ ausgestaltet als die eines Angeklagten, der Zeuge stellt allerdings dennoch kein bloßes Verfahrensobjekt dar, dass als reines Mittel der Wahrheitsfindung dienen soll. Vielmehr hat auch ein Zeuge das Recht auf eine angemessene und faire Behandlung (vgl. BVerfGE 38, 105 (114); BVerfGE 56, 37 (44)).
Dies bedeutet insbesondere auch, dass den Gerichten besondere Schutzpflichten gegenüber Zeugen obliegen, welche das Gericht gerade auch verpflichten, den Zeugen vor einer Lebens- und Leibesgefahr zu schützen, welche durch seine Mitwirkung an einer Hauptverhandlung entstehen kann (vgl. BVerfGE 57, 250 (284); BGHSt 33, 83 m. Ann. Fezer in JZ 1985, 494; Fezer JuS 1987, 359).
Das „Nicht-Erscheinen“ muss dem Gericht so frühzeitig bekannt gemacht werden, dass eine Verlegung des Termins bzw. eine Abladung der zur Verhandlung geladenen anderen Personen im normalen Geschäftsbetrieb noch möglich ist.
Der in diesen Tagen vielfach diskutierte Vorschlag, dass auch Zeugen während einer Hauptverhandlung eine Mund-Nasen-Maske tragen könnten, überzeugt meiner Ansicht nach nicht. Die Problematik und Unzulässigkeit von großflächigen Gesichtsbedeckungen ist im Rahmen religiöser Verschleierung schon diskutiert und entschieden worden. Gründe dies bei Mund-Nase-Masken anders zu beurteilen, sind nicht ersichtlich (auch wenn diese nicht aus religiösen, sondern aus Gründen der Gesundheit getragen werden).
Vielmehr ist zu überlegen, ob die StPO für Fälle, in denen die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das körperliche Wohl eines Zeugen besteht nicht bereits in §247a StPO (Audiovisuelle Zeugenvernehmung) geregelt hat.

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Strafrecht