Die Bundesregierung hat im Mai 2019 ein Eckpunktepapier veröffentlicht, in dem dargelegt wird, in welcher Form sie die von ihr für notwendig erachtete „Modernisierung des Strafverfahrens“ angehen will. Dabei sind die entscheidenden Programmpunkte:
- Die Bündelung der Nebenklagevertretung
- Die Ausweitung der Nebenklageberechtigung auf alle Vergewaltigungstatbestände
- Die Vereinfachung des Befangenheitsrechts
- Die Vereinfachung des Beweisantragsrechts
- Ein Vorabentscheidungsverfahren zu Besetzungsrügen
- Die Harmonisierung der Rechnungsfristen mit Mutterschutz und Elternzeit
- Die Erweiterung der DNA-Analyse
- Die Ermöglichung von Telekommunikationsüberwachung zur Bekämpfung des Einbruchdiebstahls
- Qualitätsstandards für Gerichtsdolmetscher
- Das Verbot einer Gesichtsverhüllung vor Gericht
- Eine erweiterte Informationsbefugnis für Bewährungshilfe/Führungsaufsicht
- Eine Erweiterung der Bild-/ Tonaufzeichnungsmöglichkeiten bei einer richterlichen Vernehmung
Im Bereich der Nebenklagevertretung sollen sich zwar grundsätzlich noch alle Nebenkläger außerhalb der Hauptverhandlung individuell vertreten lassen können, innerhalb der Hauptverhandlung wird dem Gericht aber die Möglichkeit eröffnet, bei gleichgerichteten Interessen die Vertretung zu bündeln. Obwohl grundsätzlich der Gedanke der Bündelung auch im Interesse des Beschuldigten in die richtige Richtung weist, ist noch völlig ungeklärt, wie sich eine solche Regelung im Spannungsfeld mit berufsrechtlichen Regelungen gestalten kann.
Im Bereich des Befangenheits- und Beweisantragsrechts sowie der Besetzungsrügen sieht man leider dem Eckpunktepapier der Bunderegierung einmal mehr an, dass die Strafverteidigung in erheblichem Maße unter dem Generalverdacht der Verfahrenssabotage steht. Ersichtlich wird trotz gegenteiligen Lippenbekenntnisses dem Grundsatz „Schnelligkeit des Verfahrens vor Gründlichkeit und Sicherheit des Ergebnisses“ gehuldigt. So soll es nach den Gedanken der Bundesregierung etwa möglich sein, dass ein wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnter Richter im extremen Fall bis zum Zeitpunkt vor der Urteilsverkündung noch an der Hauptverhandlung teilnehmen kann (womit sich fragt, welchen Sinn das Befangenheitsrecht dann tatsächlich noch hat) und im Beweisantragsrecht soll insbesondere dem Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht durch vereinfachte Begründungsvoraussetzungen neues Leben eingehaucht werden.
Im Bereich der Besetzungsrügen soll durch vorverlagerte Begründungsfristen sehr viel früher eine Entscheidung erzwungen werden. Erschreckend ist, dass die Bundesregierung die in hohem Maß von der Rechtsethik bestimmte Frage der richtigen Besetzung eines Gerichts nicht mehr der Entscheidungskompetenz des Bundesgerichtshofs bei landgerichtlichen Verfahren erster Instanz zuweisen möchte, sondern als Beschwerdeentscheidung dem Oberlandesgericht. Sehr viel deutlicher kann durch eine Bundesregierung kaum zum Ausdruck gebracht werden, welche niedrige Bedeutung sie gegenwärtig Grundpfeilern unserer Rechtsordnung entgegenbringt.
Ein modernes Thema ist die Harmonisierung der Unterbrechungsfristen mit Mutterschutz und Elternzeit. Eingeführt werden soll eine Hemmung des Laufes der Unterbrechungsfristen gemäß § 229 Abs. 1 und 2 StPO für die Dauer des nachgeburtlichen sowie des (in Anspruch genommenen) vorgeburtlichen Mutterschutzes. Es wird interessant sein, abzuwarten, ob auch noch die Idee entsteht, diese Schutzfristen auf Staatsanwältinnen, Verteidigerinnen und Nebenklägervertreterinnen auszuweiten. Verteidiger dürfen sich darüber hinausgehend schon jetzt darüber Gedanken machen, wie sie in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten nahebringen können, dass sie nun wegen Mutterschutz und Elternzeit einer Richterin erst einmal länger in Untersuchungshaft zu verweilen haben. Die Frage muss gestattet sein, ob bei den zuständigen politischen Funktionsträgern der Wertekompass richtig justiert ist.
Aber auch die weiteren vorgesehenen oben angesprochenen Vorhaben des Eckpunktpapiers bieten eine Menge Zündstoff, auf die aber vorliegend noch nicht eingegangen werden soll. Allerdings lässt sich durchaus bereits jetzt sagen, dass die im Eckpunktepapier niedergelegten Vorschläge jedenfalls nicht vom Geist einer liberalen Werteordnung durchzogen sind. Es macht dann eher der Gedanke Hoffnung, dass erfahrungsgemäß nicht alle politischen Vorhaben so umgesetzt werden, wie sie einstmals niedergelegt worden sind. Zum anderen ist auch alles andere als sicher, ob die jetzige Bundesregierung noch eine solange Verweildauer hat, dass sie ihre Vorhaben überhaupt angehen kann. Womit wiederum nicht gesagt ist, dass es mit einer anderen (neuen) Bundesregierung besser würde…
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Strafrecht