Die Modernisierung der Modernisierung des Strafverfahrens

Aktuelles

31.10.2019

„Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen. Wir können weiter sehen als unsere Ahnen und in dem Maß ist unser Wissen größer als das Ihrige und doch wären wir nichts, würde uns die Summe ihres Wissens nicht den Weg weisen.“

Mit diesem Gleichnis der „Zwerge auf den Schultern von Riesen“ hat bereits um 1120 n.Ch. Bernhardt von Chartres das Verhältnis von Moderni zu Antiqui dargestellt. Und es wäre durchaus wünschenswert, wenn auch der Gesetzgeber sich gelegentlich dieser durch Bescheidenheit geprägten Weisheit erinnern könnte, anstatt durch immer hektischeres Treiben im Strafverfahren gerade soeben erst verabschiedete modernisierte Normen des Strafverfahrens durch lauthals verkündete noch modernisiertere Normen abzulösen.

Anlass für diesen Stoßseufzer ist das jetzt wieder auf den Weg gebrachte nächste Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens. Es liegt aktuell ein Referentenentwurf vor, der das erst am 21.06.2019 (!) geänderte Strafverfahrensrecht wiederrum ändern und – natürlich – modernisieren soll. Auch diesmal geht es aber nicht, wie man vielleicht meinen oder hoffen könnte, um leichte Korrekturen, die möglicherweise bei der erst kürzlich erfolgten Verfahrensänderung übersehen worden sein könnten. Es geht vielmehr um tiefe Einschnitte in das Strafverfahren und auch um strafverfahrensrechtliche Grundverständnisse. Wer genauer hinschaut, wird zudem in dem neuen Gesetzentwurf die Handschrift des „Strafkammertages“ erkennen können, der seit Jahren fordert, das Strafverfahren „effektiver und praxistauglicher“ – was immer das heißen mag – gestaltet werden müssen. Wofür dann im Forderungskatalog des Strafkammertages auch so bemerkenswerte Positionen zu finden sind, wie die Einführung von Zeugenfragebögen in Masseverfahren anstelle von Vernehmungen, der Wegfall des Verschlechterungsverbots bei Widerruf eines Geständnisses nach erfolgter Verständigung oder, ganz besonders bemerkenswert, die Forderung einer Bindungswirkung von Tatsachenfeststellungen und Schuldspruch im Strafverfahren für nachfolgende Zivilverfahren (wie dies mit der unterschiedlichen Beweislast in den Verfahren in Übereinstimmung zu bringen sein könnte und was Harry Wörz zu einem solchen Vorschlag wohl sagen würde, mag man sich gar nicht ausmalen).

Schwerpunkte der Änderung der Strafprozessordnung im Referentenentwurf sollen jedenfalls im Beweisantrags- und Befangenheitsrecht liegen. Im Beweisantragsrecht wartet der Gesetzgeber dabei erstmals mit dem Versuch einer Definition eines Beweisantrages auf (§ 244 Abs. 3 StPO neu), der vor allem deshalb so bemerkenswert ist, weil die Definition nunmehr auch das Erfordernis der (einfachen) Konnexität umfasst. Darüber hinausgehend fällt im Entwurf auf, dass die bereits begonnenen Bemühungen des Gesetzgebers fortgesetzt werden, den als schwer handhabbar empfundenen Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung in der Anwendung zu vereinfachen. Die Prozessverschleppung soll nach den Volten der Rechtsprechung und der Gesetzgebung durch einen neu konzipierten § 244 Abs. 6 StPO schlicht aus dem Begründungserfordernis für eine Beweisantragsablehnung herausgenommen werden.

Das gerade von der Justiz so wenig geschätzte Befangenheitsrecht soll ebenfalls für die Gerichte seinen Schrecken verlieren. § 29 StPO in seiner neuen Fassung wird den Gerichten die Möglichkeit eröffnen, auch nach Anbringung eines Ablehnungsgesuches ohne allzu viel Verzögerungsärgerlichkeiten weiter zu verhandeln.

Überhaupt beherrscht das Thema Schnelligkeit den neuerlichen Gesetzentwurf. Nicht nur bestimmte Befangenheits- sondern auch Besetzungsanträge müssen im Regelfall vor der Hauptverhandlung gestellt werden und über die richtige Zuständigkeit und Besetzung des Gerichts, also den verfassungsrechtlich verbürgten gesetzlichen Richter, wird bestenfalls zukünftig das Beschwerdegericht entscheiden. Damit wird aber auch deutlich, was der Gesetzgeber unter „Modernisierung“ versteht: Es ist leider nicht die Hauptsorge des Gesetzgebers, das Strafverfahren weniger fehleranfällig im Hinblick auf ein mögliches Fehlurteil zu gestalten, sondern es geht um eine erhöhte Schnelligkeit des Verfahrens durch Verkürzung von Verteidigungsrechten des Beschuldigten.

Es scheint fast so, als stünde bei den Urhebern des nun hypermodernisierten Strafverfahrens die Richtigkeit des Urteils außer Frage, nur der Weg dorthin ist nicht „effektiv und praxistauglich“. Was für eine Verdrehung der Kausalität!

In der Kultur wurde die Epoche der Moderne durch die Postmoderne abgelöst. So gesehen kann Hoffnung bestehen, dass sich vielleicht auch in der Bevölkerung und dem aus ihr gekürten Gesetzgeber irgendwann die Erkenntnis durchsetzen kann, dass dem falschen Heilsbringer hinterher gelaufen wird.