Führe uns nicht in Versuchung – die europäische Absage an die Strafzumessungslösung?

Aktuelles

10.12.2020

Es ist eines Rechtstaates unwürdig, wenn Bürger durch den Staat in Ihrer Gesetzestreue getestet werden, indem man Lockspitzel dazu einsetzt, sie zur Begehung von Straftaten anzustiften.

1.

Der Einsatz von Lockspitzeln hat sich in der Praxis als zweckdienlich erwiesen, wenn es um die Aufklärung schwer aufklärbarer Sachverhalte geht. Das ist besonders aus dem Betäubungsmittelstrafrecht geläufig, doch auch im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, namentlich im Bereich des Zollrechts, werden häufig Lockspitzel eingesetzt.

Lockspitzel dürfen zwar nur gegen Personen zum Einsatz gebracht werden, gegen die schon ein Verdacht i.S. des § 160 StPO besteht –und dies auch ausschließlich bei gefährlicher oder anders schwer aufklärbarer Kriminalität (§ 110a StPO)- in der Praxis ist es jedoch nicht unüblich, wenn es zu einem Einsatz ohne entsprechende Verdachtslage kommt, sollten die Ermittlungsbehörden mit ihrem kriminalistischen Latein am Ende sein. Damit stellt sich aber auch die Frage, wo die Grenzen eines rechtmäßigen Einsatzes liegen und was die Konsequenzen aus rechtswidrigem Handeln sind.

In einer erst kürzlich zu diesem Thema ergangenen Entscheidung des EGMR (Urteil v. 15.10.2020 – 40495/15, 37273/15, 40913/15), hat dieser den Unterschied zwischen einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation und einer verdeckten Ermittlung, sowie die sich aus Ersterer ergebenden rechtlichen Konsequenzen, klargestellt. Wenn eine Person zur Begehung einer Straftat verleitet werde, die ohne staatliche Initiative nicht begangenen worden wäre, seien die Grenzen rechtsstaatlicher Ermittlungsmaßnahmen überschritten. Ein solcher Verstoß könne nicht lediglich durch eine Strafmilderung ausgeglichen werden.

2.

Der Entscheidung des EGMR lag ein Fall zugrunde, welcher sich im Betäubungsmittelmilieu abspielte. Die Staatsanwaltschaft Berlin hatte einen V-Mann eingesetzt, um eine Person zu überprüfen, welche wegen mutmaßlicher Heroingeschäfte in das Visier der Behörden geraten war. Bei dieser Gelegenheit versuchte der V-Mann, den im Ergebnis zu Unrecht Verdächtigen, zur Einfuhr großer Mengen von Betäubungsmitteln zu überreden.

Wie das LG Berlin (Urt. vom 07.11.2012 – 69 Js 213/09) und der BGH (Urt. vom 11.12.2013 – 5 StR 240/13) später in ihren Urteilen feststellten, habe diese Person vor dem Lockspitzeleinsatz weder über die notwendigen Kontakte verfügt, um ein Drogendelikt zu begehen, noch sei sie zum damaligen Zeitpunkt überhaupt zur Tat entschlossen gewesen. Erst durch die Überredungskünste des V-Mannes habe man die Person nach eineinhalb Jahren schließlich zur Tatbegehung gebracht. Die Tat sei weit über das hinausgegangen, was ursprünglich laut dem Anfangsverdacht der Behörden in Rede stand und hätte ohne den Einsatz des Lockspitzels niemals stattgefunden. Das LG Berlin verurteilte die Person wegen Drogenhandels und der BGH bestätigte dieses Urteil dem Grunde nach. Die Gerichte stellten zwar die Tatprovokation durch den Lockspitzel fest, berücksichtigten dies jedoch nur unter Strafzumessungsgesichtspunkten und nicht als zur Einstellung des Verfahrens führendes Verfahrenshindernis.

Auch das BVerfG schloss sich dieser Auffassung an. Zwar sei ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zu bejahen, damit sei aber nicht der Strafanspruch des Staates verwirkt, vielmehr genüge es rechtsstaatlichen Grundsätzen, wenn der Verstoß gegen das Gebot der Fairness bei der Strafzumessung zugunsten des Täters berücksichtigt werde (BVerfG, Beschluss v. 18.12.2014, 2 BvR 209/14).

Schließlich rief die Ehefrau des inzwischen verstorbenen Mannes den EGMR an. Dieser bewertete den vorliegenden Einsatz eines V-Manns als evidenten Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens. Verhalte sich eine V-Person nicht mehr passiv, sondern aktiv, beispielsweise durch Beeinflussung des Täters in einem solchen Maß, dass dieser zu einer Straftat verleitet werde, die er sonst nicht begangen hätte, so sei dies mit einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren unvereinbar. Es sei die Aufgabe des Staates, Straftaten vorzubeugen und nicht, zu ihnen anzustiften. Die Durchsetzung öffentlicher Interessen rechtfertige nicht, Menschen durch staatlich legitimierte Anstifter zur Begehung einer Straftat zu bewegen und anschließend auf Grundlage der dadurch gewonnenen Beweise zu bestrafen.  Niemand dürfe für eine Straftat bestraft werden, die durch eine staatliche Tatanstiftung bestimmt wurde (EGMR, Urteil v. 15.10.2020, Nr. 40495/15).

3.

Der EGMR hat mit dieser deutlichen Entscheidung in begrüßenswerter Weise der nationalen Rechtsprechung eine Absage erteilt, selbst in eklatanten Fällen rechtsstaatswidriger Tatprovokation, allein auf der Ebene der Strafzumessung Entscheidungsrelevanz sehen zu wollen. Damit erhält die Entscheidung aber weit über das Betäubungsmittelstrafrecht, in dem der Sachverhalt angesiedelt ist, Gewicht.

Ob sie in rechtspolitischer Hinsicht einen Paradigmenwechsel hin zum Ende der Strafzumessungslösung bedeutet, wird sich sicherlich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht voraussagen lassen. Zu hoffen ist aber jedenfalls, dass das Signal aus Straßburg nicht unbeachtet bleibt in der gegenwärtig wieder aufgeflammten rechtspolitischen Diskussion um die Erweiterungsmöglichkeiten von V-Mann Einsätzen.

Die Entscheidung betrifft im Übrigen auch nicht nur das Betäubungsmittelstrafrecht. Gerade in vielen Bereichen des Wirtschaftsstrafrechts, insbesondere dann, wenn Anzeichen für organisierte Kriminalität vorliegen, ist gegenwärtig zu beobachten, dass die Verfolgungsbehörden verstärkt mit besonderen Ermittlungsansätzen operieren.

Die Entscheidung aus Europa entfaltet deshalb auch hier als Warnsignal ihre Bedeutung.