Das neue Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz

Aktuelles

25.11.2022

Kaum etwas anderes ruft bei juristischen Laien aber auch selbst Jurastudenten bei Gesprächen über das deutsche Strafverfahren regelmäßig so viel Überraschung hervor, wie die Information darüber, in welcher Form gegenwärtig der Verlauf eines Strafverfahrens offiziell dokumentiert (oder besser: nicht dokumentiert) wird. Dass, anderes als bei den meisten anderen Strafprozessordnungen der Welt, ausgerechnet in den Verfahren, in denen es um besonders viel geht, allein die sog. wesentlichen Förmlichkeiten Eingang in das Protokoll finden, hingegen aber keinerlei Inhalte der Aussagen von Sachverständigen und Zeugen festgehalten werden, löst zuverlässig fassungsloses Erstaunen aus. Dennoch waren die gesetzlichen Regelungen über Jahrzehnte unantastbar und denen, die Zweifel an den Regelungen äußerten, wurde gerne entgegengehalten, das Strafverfahren nicht verstanden zu haben. Nicht wenige Richter hatten in der Vergangenheit jeden Gedanken an eine Reformation der Dokumentationspflichten eine Absage erteilt mit der Begründung, dass dies „untunlich“ sei und dabei ein wenig an die Ärzte erinnert, die noch lange Zeit glaubten, dass die in den Patientenakten niedergelegte Dokumentation ihr Eigentum sei und keinem anderen, insbesondere den betroffenen Patienten nicht zugänglich gemacht werden müsse.

Diese Zeiten scheinen sich jetzt einem Ende zu nähern und es ist der Verdienst der Ampelkoalition, dass die im Koalitionsvertrag bereits niedergelegte Absicht einer audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung Fahrt aufnimmt.

Dass die anstehende Veränderung eines anachronistischen Zustandes (Kaufmann, LTO 15.11.2022) aber natürlich eine erhebliche Anzahl von Fragen aufwirft, wird allein schon dadurch deutlich, dass eine vom BMJV im Herbst 2019 eingesetzte Expertengruppe fünf unterschiedliche Unterarbeitsgruppen gebildet hat, die sich mit den Fragestellungen „Prozessverlauf und Protokoll“, „Verwendung in der Revision und in sonstigen Verfahren“, „Persönlichkeitsschutz“, „Richter- und Verteidigerwechsel“ sowie „Technik und Organisation“ befasst hat. Allein die Benennung der Arbeitsgruppen deutet an, wie viele Bereiche die Veränderung der Hauptverhandlungsdokumentation berühren wird.

So wie es im Moment aussieht, wird der Gesetzentwurf der Ampelkoalition versuchen, einen Ausgleich zwischen diesen verschiedenen rechtlichen Spannungsfeldern zu schaffen. Gedacht ist an die Einführung einer audiovisuellen Aufzeichnung, also einer Aufzeichnung mit Bild und Ton. Die neuen Regelungen sollen in §§ 271 bis 274 StPO niedergelegt werden. Dabei soll die audiovisuelle Aufzeichnung nicht das bisherige Protokoll ersetzen, sondern nur ergänzen, ohne selbst Protokollcharakter zu haben. Dies soll insbesondere die revisionsrechtlichen Fragestellungen lösen. Hier bleibt es rechtlich beim Bisherigen. Die audiovisuelle Dokumentation wird damit lediglich „Hilfsmittel für die Aufbereitung des Hauptverhandlungsgeschehens“, nicht aber rügefähiger Inhalt. Insofern wird die neue Dokumentation weniger rechtlich, sondern mehr praktisch und auch psychologisch zu einer Verbesserung der Wahrheitsfindung beitragen.

Im Bereich des Schutzes der Persönlichkeitsrechte ist vorgesehen, dass Zeugen, die nicht identifiziert werden sollen, verpixelt werden. Aufgezeichnet wird ohnehin nur der den Verfahrensbeteiligten zugedachte Bereich des Gerichtssaals. Die Aufzeichnung soll darüberhinausgehend nur dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten zur Verfügung gestellt werden. Der Angeklagte selbst soll die Aufzeichnung lediglich einsehen dürfen, so wie nun mehr auch seit 2017 das Akteneinsichtsrecht gemäß § 147 Abs. 4 StPO geregelt ist. Die unbefugte Weitergabe einer Bild-/Tonaufzeichnung soll darüberhinausgehend gemäß § 353d strafbar werden. Eine Löschung der Aufzeichnung hat nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens zu erfolgen.

Gedacht ist daran, dass die Bundesländer die Möglichkeit der audiovisuellen Dokumentation zunächst freiwillig und schrittweise einführen, bevor sie ab dem 01.01.2030 bundesweit verbindlich gelten soll. Dies ist ein wichtiger Schritt in die Zukunft. Man darf gespannt sein, welche Veränderungen mit dem jetzt beabsichtigten Anfang die Dokumentationsvorschriften alleine bis 2030 nehmen werden.

Die Büchse der Pandora ist jedenfalls geöffnet und in diesem Fall ist es gut so.