Es sind aufregende und aufgeregte Zeiten, in denen wir gerade leben. Das Corona-Virus und die daraus hervorgehende Krankheit COVID-19 („Corona Virus Disease aus dem Jahre 2019“) bestimmt und bedroht nicht nur die Weltgesundheit, sondern nistet sich zusätzlich als bösartiger Pilz in unsere Gedankengänge ein und droht, dort vormals wichtige Themen, Überlegungen und sogar Grundsätze zu verschlingen.
1. Vorab Eines:
Das Corona-Virus ist lebensbedrohlich und führt zu einer ernsten Gefahr sowohl für die Volks- als auch die Weltgesundheit. Menschen, die diese Tatsachen nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, scheiden als ernsthafte Gesprächspartner zu diesem Thema aus. Ähnlich kritisch sind sicher auch Verhaltensweisen zu beurteilen, bei denen aus Ignoranz, Egoismus oder auch nur schlichter Dickfelligkeit in dieser Krisensituation verantwortungslos und unsolidarisch weiter in den Tag gelebt wird durch Nichtwahrnehmung von Fürsorgepflichten gegenüber Mitarbeitern oder allgemeiner Nichtwahrung von gebotenen Distanzierungsmaßnahmen.
Jede Krise ist aber immer zugleich auch eine Bewährungs- und Belastungsprobe für das rechtliche System, in dem sie stattfindet. In einem Staat, der sich den Gedanken des Rechtsstaats verpflichtet fühlt, stellt sich die Frage, ob die Bereitschaft der Exekutive dazu besteht, die existierenden gesetzlichen Vorgaben sowohl als Hilfestellung als auch zugleich als Begrenzung für eigenes Handeln anzuerkennen und nicht nur als unverbindliche Empfehlungen. Zwar ist die durch das Corona-Virus hervorgerufene Gesundheitskrise in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartig. Aber es gab auch schon in der Vergangenheit andere Krisensituationen (wie etwa in der Zeit des RAF-Terrorismus), in denen der Staat beim Lackmustest der Gesetzestreue leider nicht immer gut ausgesehen hat. Und auch jetzt ziehen dunkle Wolken herauf. Wer sich die vielfältigen Pressekonferenzen von Entscheidungsträgern auf Bundes- und auf Landesebene der letzten Tage angehört hat, konnte bereits gelegentlich den Eindruck haben, dass angeordnete Maßnahmen nicht aufgrund einer Rechtslage, sondern eher trotz einer Rechtslage ersonnen wurden und dass die Frage, ob die getroffenen Maßnahmen sich noch irgendwie auf eine Rechtsgrundlage zurückführen lassen, nicht besonders wichtig sei.
Wäre dies so, wäre dies fatal und die Anwaltschaft dazu aufgerufen, gerade bei schnellen Gesetzesinitiativen in einer Notsituation genau hinzuschauen, ob die entsprechenden Grundlagen auch tragen. Aktuell gilt dies umso mehr, als mit den durch die Exekutive getroffenen Maßnahmen nicht etwa nur ordnungswidrigkeitsrechtliche Fragen gemäß § 73 Infektionsschutzgesetz (IfSG) verbunden sind, sondern strafrechtliche Sanktionen; neben den Straftaten der §§ 74, 75 IfSG stehen auch Straftaten des allgemeinen Strafrechts insbesondere aus dem Bereich der Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und des Widerstands gegen die Staatsgewalt im Raum.
Absehbar ist zudem, dass als Folge der staatlichen Handhabung der Krise – völlig unabhängig davon, ob diese Handhabung richtig oder falsch ist – sich die wirtschaftliche Situation in Deutschland erheblich verändern wird und damit zwangsläufig Sachverhalte einhergehen werden die nach den bisherigen rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen nicht nur den Bereich des Insolvenzrechts einschließlich des Insolvenzstrafrechts berühren, sondern auch andere wirtschaftsstrafrechtliche Delikte, wie auch etwa Betrugs- und Untreuestraftaten.
2. Zu den Rechtsgrundlagen
Es lohnt sich deshalb, einmal in den Blick zu nehmen, auf welcher Rechtsgrundlage die von der Exekutive in der Form von Allgemeinverfügungen ergangenen Verbote beruhen.
Ausgangspunkt für die gesamten gesetzgeberischen Maßnahmen ist das Infektionsschutzgesetz, ein kompliziert formuliertes mit zahlreichen Verweisungen arbeitendes Bundesgesetz, welches von den Ländern ausgeführt wird. Dieses enthält in § 28 Abs. 1 IfSG eine Generalklausel, nach der die zuständige Behörde ermächtigt wird, „die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“ zu treffen. In § 28 Abs. 1 und 2 IfSG wird sodann ausgeführt, dass unter den Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 S. 1 die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen beschränken oder verbieten und bestimmte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen kann. Ebenso können Personen dazu verpflichtet werden, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von der Behörde bestimmte Orte nicht zu betreten, bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind. Bei den durch § 28 Abs. 1 genannten Normen des § 29 bis 31 IfSG handelt es sich um Maßnahmen der Beobachtung, Quarantäne und des beruflichen Tätigkeitsverbots. Liest man also die gesetzlich normierten Maßnahmen durch, findet sich dort die gegenwärtig verhängte Maßnahme der Aufenthaltsbeschränkung nicht wieder. Soweit ersichtlich könnte diese sich damit rechtlich allenfalls auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG stützen, was allerdings rechtlich fragwürdig erscheint. Denn weil in § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG ein spezielles Aufenthaltsverbot für einzelne, individuell gefährliche Personen geregelt ist kann es daneben nicht aufgrund einer Generalklausel eine allgemeine Kompetenz für die Durchführung erweiterter Maßnahmen wie einer Aufenthaltsbeschränkung geben.
Eine andere weitergehende Kompetenz zum Erlass der Allgemeinverfügung ergibt sich aus dem IfSG nicht. Insbesondere hilft auch § 32 IfSG nicht weiter, wonach die Landesregierung dazu ermächtig werden, gem. §§ 28 bis 31 IfSG durch Rechtverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Denn durch den entsprechenden Verweis ist bereits klargestellt, dass die Rechtsverordnungen nur im Kompetenzbereich des IfSG erlassen werden können.
Damit aber drängt sich das ungute Gefühl auf, dass sich die getroffenen Maßnahmen außerhalb der bestehenden Rechtsordnung bewegen könnten (und dabei sind noch nicht einmal die stets bestehenden Probleme der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit angesprochen). Dies hätte gleich zwei Konsequenzen. Es wäre im Einzelfall damit höchst fraglich, ob eine strafrechtliche Sanktionierung einer missbilligten Handlungsweise überhaupt möglich ist, wenn sich ergibt, dass sie auf einer Maßnahme beruht, die ihrerseits keine gesetzliche Grundlage hat. Sehr viel allgemeiner stellt sich darüber hinausgehend die Frage, welche rechtlichen Konsequenzen aus einer Einschränkung der persönlichen und beruflichen Freiheit folgen, die keine gesetzliche Stütze hat.
Die Situation ist (leider!) auch insofern schwerwiegend. Derzeit wird durchaus nachvollziehbar – aber nicht richtig – offenbar alles den praktischen Erwägungen zur Bekämpfung der Ausweitung von COVID-19 unterstellt. Und dabei scheinen Gesetze eher als „Störenfriede“ empfunden zu werden. Dies führt jedoch zwingend zu langfristig wirkenden Fehlern. Denn es geht von einer solchen Handhabung das Signal aus, dass die Einhaltung von Gesetzen nur für gutes Wetter gefordert werden kann und in Zeiten der Krise auch anders gehandelt werden darf. Dabei ist es gerade die Unverbrüchlichkeit des Rechts, die in Krisenzeiten dem Staat ein sicheres Korsett gibt. Zum anderen ist der Rechtsgemeinschaft auch wenig damit gedient, wenn später eine Vielzahl von strafrechtlichen Aufarbeitungen nach dem IfSG daran scheitert, dass sich die rechtliche Maßnahme auf keine Kompetenz stützen kann und im Gegenteil Mitglieder der Exekutive auf der Anklagebank sitzen.
3. Ein Letztes:
Dem Vernehmen nach plant die Bundesregierung bereits jetzt eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Der Bund soll nach den Änderungen den Ländern künftig Einzelweisungen erteilen dürfen, es soll u.a. eine Zwangsverpflichtung von Ärzten, Angehörigen von Gesundheitsfachberufen oder Medizinstudenten geben und es sollte die Möglichkeit geschaffen werden, mit Hilfe von Ortungen über das Handy Kontaktpersonen von Kranken zu identifizieren und zu lokalisieren. Zwar ist das letzte Vorhaben (Handy) erst einmal nach heftigen Protesten zurückgezogen worden, aber die anderen Änderungsvorhaben bleiben bestehen.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass der Gesetzgeber ein Infektionsschutzgesetz erlassen hat und so wenig von seinem eigenen Gesetz hält, dass ihm bereits bei der ersten tatsächlich ernsthaften Belastungsprobe nicht der Gedanke kommt, das Gesetz, welches gerade für diese Krise geschaffen wurde, erst einmal anzuwenden, sondern der Gedanke, es sofort zu ändern. Die Botschaft, die der Gesetzgeber im Hinblick auf die Beurteilung seiner eigenen legislativen Fähigkeiten aussendet, könnte kaum bestürzender sein.
Es heißt landläufig, dass der erste Verlierer im Krieg (und wohl auch in der Krise) die Wahrheit sei. Es ist alles daran zu setzen, dass sich der Rechtsstaat nicht auch noch zu dieser Verliererseite hinzugesellt.
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Strafrecht