Fortentwicklung: Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften entwickelt sich fort

Aktuelles

20.04.2021

1.
Das Strafrecht entwickelt sich, unaufhaltsam wie die Wurzeln einer Pflanze, die nach und nach auch noch den kleinsten Erdbereich durchdringt. Allerdings heißen die verschiedenen Stadien des Wachstums jeweils anders. Mal steht der Titel „Neuregelung“ über den gesetzgeberischen Vorhaben, mal „Effektivierung“, mal „Modernisierung“. Es ist aber sogar auch schon vorgekommen, dass die gesetzlichen Änderungen, man könnte fast denken „versteckt“, in gesetzgeberischen Vorhaben auffindbar waren, bei denen der Name in keiner Weise darauf hindeutete, dass das Gesetzgebungsvorhaben auch strafrechtliche Problemstellungen regelte. In der Werbung würde man zu den letzten Vorkommnissen sagen: „Nicht überall, wo Corona-Regelung draufstand, war auch Corona-Regelung drin.“

Das neueste gesetzgeberische Vorhaben der Bundesregierung ist da wenigstens in seiner Absicht deutlicher. Nachdem in immer schnelleren Zeitabständen durchaus gewichtige Änderungen in der Strafprozessordnung vorgenommen wurden, hat der Gesetzgeber, ohne sich die Zeit zu nehmen, die Auswirkungen der vorangegangenen gesetzgeberischen Änderungen zu erfahren, unter dem Titel „Fortentwicklung der Strafprozessordnung“ ein umfangreiches neues gesetzgeberisches Änderungsprogramm der StPO aufgelegt. Die erste Lesung zu diesem gesetzgeberischen Vorgang hat bereits im März 2021 und eine Sachverständigenanhörung im April 2021 stattgefunden. Es darf dementsprechend prognostiziert werden, dass das Gesetzesvorhaben im Rennen um die Diskontinuität obsiegen wird und wir demzufolge bis Herbst 2021 weitere Änderungen der Strafprozessordnung zu verzeichnen haben.

2.
Um mit dem Positiven zu beginnen:

Eine archaische Bastion des Strafverfahrensrechts scheint zu fallen, die Nichtverlängerbarkeit der Revisionsbegründungsfrist gemäß § 345 StPO. Wie schwer sich der Gesetzgeber mit diesem Schritt tut, ist allerdings allein daran zu erkennen, dass nach wie vor von einer nicht bestehenden Vergleichbarkeit zwischen Urteilsabsetzungsfrist und Revisionsbegründungsfrist ausgegangen wird und deswegen eine Parallelität zwischen den beiden Fristen nicht vorgesehen ist. Anders als die unbegrenzte Staffelung der Urteilsabsetzungsfrist gemäß § 275 StPO ist bei der Revisionsbegründungsfrist lediglich eine Staffelung in zwei Stufen vorgesehen. Es soll für die Begründungsfrist auch nicht auf die Dauer der Hauptverhandlung ankommen, sondern interessanterweise auf den vom Richter abhängigen Zeitpunkt der Verbringung des Urteils zur Akte. Geschieht dies später als 21 Wochen, gibt es einen Monat mehr Begründungsfrist, geschieht dies erst nach 35 Wochen, darf es noch ein Monat mehr sein. Das wirkt alles wenig ausgegoren. Aber es ist wenigstens einmal ein Anfang.

3.

Ansonsten bietet das Gesetzgebungsvorhaben viele „Nachsteuerungen“, hinsichtlich derer man sich schon die Frage stellen kann, wann eigentlich einmal wieder der Zeitpunkt kommt, zu dem das Verfahrensrecht als effektives Schutzrecht zur Gewährleistung von Rechtspositionen von bis zur Verurteilung als unschuldig geltender Menschen begriffen wird.

3.1

Hierzu ist besonders darauf hinzuweisen, dass die „Fortentwicklung der StPO“ vorsieht, dass durch eine (erneute) Änderung des § 459e Abs. 5 StPO im Bereich der Vermögensabschöpfung der Schutz des entreicherten Betroffenen beseitigt wird.

§ 421 StPO soll darüberhinausgehend in seinem Anwendungsbereich dahingehend eingeengt werden, dass ein Absehen von der Einziehung unter dem Gesichtspunkt, dass sie neben der zu erwartenden Strafe oder Maßregel nicht ins Gewicht falle, in Fällen der rein vermögensordnenden Einziehung nach Maßgabe der §§ 73 ff. StGB nicht in Betracht komme.

3.2

Auch an den Belehrungsvorschriften im Rahmen des Haftrechts (§ 114b StPO) und den Vernehmungsvorschriften (§§ 136, 163a StPO) wurde wiederum herumgefeilt. Zum Belehrungskatalog des § 114 b soll nunmehr entsprechend § 136 StPO gehören, dass der Beschuldigte in Fällen des Pflichtverteidigerwunsches auch auf die Kostenfolge des § 465 StPO hinzuweisen sei.

Es drängt sich die Frage auf, was sich der Gesetzgeber hierbei eigentlich gedacht haben mag und ob tatsächlich zwischenzeitlich so wenig Kenntnis von der Praxis besteht. Denn es steht zu befürchten, dass selbst bei bestem Willen weder der belehrende Polizeibeamte noch der Beschuldigte mit dieser erforderlichen Belehrung etwas Vernünftiges werden anfangen können. Und es wäre deshalb angezeigt gewesen, erst einmal im Rahmen des § 136 StPO zu klären, ob die dort vorgesehene Hinweispflicht wirklich sinnvoll ist. Das Problem beginnt bereits damit, dass die Pflichtverteidigung ihrer Struktur nach kein Wahlrecht des Beschuldigten beinhaltet. Liegen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung gemäß § 141 Abs.2 StPO vor, dann hat eine Pflichtverteidigerbestellung zu erfolgen. Die Wahl des Pflichtverteidigers bleibt zwar dann möglich, nicht aber eine Entscheidung zum „ob“ der Pflichtverteidigung.

Für den ganz überwiegenden Teil der gemäß § 114b StPO zu Belehrenden wird der gesetzliche Fall der notwendigen Verteidigung eintreten. Es darf aber bezweifelt werden, dass der Belehrende gemäß § 114b StPO dies dem zu Belehrenden mitteilen wird. Schon deshalb hilft die Belehrung nicht weiter. Es kommt aber auch noch ein weiterer Aspekt hinzu. Wenn der Beschuldigte etwa durch einen Polizeibeamten gemäß der neuen Regelung des § 114b StPO darüber belehrt werden soll, dass ihn eine Kostenpflicht treffen kann, so wird er doch mit hoher Wahrscheinlichkeit fragen, wie hoch denn die Kosten sind. Und hierzu kann angenommen werden, dass der Polizeibeamte wohl kaum die gebührenrechtlichen Regelungen aus der anwaltlichen Gebührenordnung kennt und deshalb auch nichts dazu sagen kann. Die vom Gesetzgeber vorgesehene neue Belehrung lautet deshalb zukünftig, auf die Praxis übersetzt, wie folgt:

„Ich belehre Sie als Beschuldigten darüber, dass dann, wenn Sie sich dafür entschieden, bereits jetzt einen Pflichtverteidiger haben zu wollen, dies Sie später möglicherweise etwas kosten wird. Diese Kosten machen aber nur einen Bruchteil der entstehenden Pflichtverteidigergebühren aus, weil Ihnen bereits im nächsten Verfahrensabschnitt ohnehin ein Pflichtverteidiger zu bestellen sein wird, was Sie allerdings nicht zu entscheiden haben! Was das Ganze kostet, kann ich Ihnen leider aber ohnehin nicht sagen, da ich vom anwaltlichen Gebührenrecht nichts weiß!“

Man kann festhalten, dass diese gesetzgeberische Neuregelung den Höhepunkt einer sinnvollen Belehrung darstellt. Mit dem entsprechenden Nachdruck ausgesprochen, wird sie allerdings dazu führen, dass der Beschuldigte auf einen Pflichtverteidiger, soweit es geht, verzichtet.

3.3

Ferner enthält das neue gesetzgeberische Vorhaben auch eine Regelung zur automatischen Kennzeichenerfassung (§ 163g des Entwurfes), bei dem ohne Richtervorbehalt den Strafverfolgungsbehörden im öffentlichen Verkehrsraum die Erlaubnis zugesprochen wird, bei zureichenden Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Straftat Daten zu erheben.

3.4

Schließlich ist die Definition eines neu erfolgten Verletzten-Begriffs (§ 373b StPO) anzusprechen, nachdem im Sinne des Gesetzes Verletzte diejenigen sind, „die durch die Tat, ihre Begehung unterstellt oder rechtskräftig festgestellt, in ihren Rechtsgütern unmittelbar beeinträchtigt worden sind oder unmittelbar einen Schaden erlitten haben.“.

Auch hier wird abzuwarten bleiben, welche Auswirkungen diese an sich im Sinne des Zweifelssatzes begrüßenswerte einschränkende Definition des Verletzten-Begriffs hat. In der Gender-Diskussion ist bislang – soweit zu beobachten – der Ansatz „im Sinne meiner Ausführungen sind unter der Bezeichnung „alle Männer“ auch alle Frauen zu verstehen“ nicht sonderlich von Erfolg gekrönt gewesen.

Dass dessen ungeachtet der Gesetzgeber unter „Verletzten“ auch Personen erfassen will, bei denen sich diese Eigenschaft erst später ergibt, ist eine Sprachlogik, deren Feinheit sich eine Vielzahl von Menschen verweigern dürfte. Dabei beinhaltet die Definition im Übrigen auch, dass „Verletzter“ selbst dann noch der per Definition richtige Ausdruck für das angenommene Opfer einer Tat wäre, wenn der Täter rechtskräftig freigesprochen worden ist und sich herausgestellt hat, dass es gar keine Tat gegeben hat. Es leuchtet nicht ein, warum man dann nicht lieber für Klarheit sorgt und dem Begriff ein für jeden verständliches Adjektiv wie etwa „mutmaßlich Verletzter“ beifügt.

3.5

Von besonderer Bedeutung für die Praxis dürfte die vorgesehene Regelung der Geheimhaltung und Zurückstellung von Benachrichtigungen bei Beschlagnahme und Durchsuchung gemäß § 95a StPO sein. Danach soll es nunmehr möglich sein, entgegen §§ 33 Abs. 3, 85 Abs. 2 StPO bis zum Abschluss der Ermittlungen Beschlagnahmen und diesen ggf. vorausgehende Durchsuchungen bei Dritten geheim zu halten. Die Zielrichtung des Gesetzgebers ist es dabei, insbesondere die mögliche Beschlagnahme von digitalen Beweismitteln vor den Betroffenen geheim zu halten. Dies soll möglich sein bei Ermittlungsverfahren, in denen bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass der Täter eine „Straftat von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung, insbesondere eine in § 100a Abs. 2 StPO bezeichnete Straftat“, begangen hat.

Abgesichert werden soll das Ganze zusätzlich mit der Möglichkeit, dritten Personen gegenüber zu verbieten, über die wahrgenommenen Maßnahmen den Beschuldigten Auskunft zu erteilen, was wiederum sanktionsbewehrt ist (§ 95a Abs. 6 und 7 des Entwurfes).

Möglicherweise ist diese Neuregelung des § 95a StPO als gravierendste Neuregelung im Gesetzentwurf anzusehen, sie ist jedenfalls ein entscheidender Einschnitt in die Schutzrechte eines Beschuldigten.

Denn es darf nicht verkannt werden, dass mit der angedachten Eingriffsmaßnahme der Beschuldigte nicht nur gläsern wird, sondern dies nun auch noch geschieht, ohne dass er dies weiß, sich gegen die Maßnahme also noch nicht einmal zeitlich angemessen wehren kann. Dem Beschuldigten soll damit wissentlich durch den Gesetzgeber effektiver Rechtsschutz versagt werden. Und dabei ist auch noch die Eingriffsschwelle erschreckend niedrig ausgestattet.

Abgesehen davon, dass sich insbesondere der Katalog des § 100a Abs. 2 StPO in steter Ausdehnung befindet (auch das jetzige Gesetzgebungsvorhaben weitet die Norm wiederrum deutlich aus), verhält es sich natürlich auch so, dass die Eingriffskompetenz bereits bei Verdacht des Vorliegens einer entsprechenden Straftat besteht. Es wird also für die Rechtmäßigkeit der Anordnung nicht darauf ankommen, ob die entsprechende Straftat tatsächlich vorgelegen hat, sondern ob zum Zeitpunkt der Anordnung der Verdacht begründbar war. Der Beschuldigte wird damit nun endgültig zum passiven Objekt des Ermittlungsverfahrens.

4.

Zum Schluss nochmal ein Werbespruch.

Ich frage mich manchmal, was eigentlich geschehen muss, um ein, wie es in einem Werbespruch so schön heißt, „Umparken im Kopf“ einzuleiten. Es entsteht der Eindruck, dass die sog. „Fortentwicklung“ der strafprozessualen Gesetzgebung wesentlich damit beschäftigt ist, Regelungsinhalte zu finden, um ein „herbeigerauntes zu viel an von Verteidigungsrechten für den Beschuldigten“ zu verhindern. Dabei wäre es doch in dem Bemühen um das Erreichen eines Rechtsstaats so viel mehr angezeigt, die Schutzmöglichkeiten des Beschuldigten so auszugestalten, dass sie ihm auch zur Verfügung stehen. Was ist daran so schlimm? Die Kriminalstatistik spricht jedenfalls nicht dafür, dass der Untergang des Abendlandes unmittelbar bevorsteht und die Langwierigkeit von Strafverfahren mag viele Ursachen haben, aber ganz sicher nicht an der exzessiven Handhabung von Verteidigungsrechten liegen.